Argentinien - Chile by bike...Freunde (6)
Argentinien bis Chile - Mit 2 Kindern on tour
► Teil 6: Rucksacktour mit Freunden
Vulkan im Regen "Habe ich schon Wahnvorstellungen?", frage ich mich, als ich im Vorbeifahren das Schild aus dem Augenwinkel sehe. Doch was da geschrieben steht, lässt mir keine Ruhe. Also drehe ich trotz des strömenden Regens mit dem Fahrrad um und lese noch einmal. Doch es stimmt! Dort stehen so herrliche Worte wie ,Strudel' und ,Kuchen' - und das mitten im spanisch-sprachigen Chile. Ein paar Minuten später sitzen wir im Trockenen bei Kaffee und Nusskuchen und sehen die Regentropfen gegen die Fensterscheibe prasseln. Frank - unser guter Freund aus Leipzig - ist seit ein paar Tagen hier bei uns in Chile und wir radeln gemeinsam um den Llanquihue-See, an dessen Ufer sich der schneebedeckte 2652 m hohe Vulkan Osorno in den Himmel streckt. Leider versteckt sich der schöne Berg in den tief hängenden Wolken und immer wieder werden wir von heftigen Regenschauern durchnässt. Seitdem wir vor 3 Wochen in Chile eingereist sind, verfolgt uns das Regenwetter. Der Regen gehört zu Chile wie die Bratwurst zu Thüringen, aber diesen Dauerregen finden selbst die Einheimischen ungewöhnlich.
Schwarzwälderkirschtorte und Sauerkraut Zum Glück gabelt uns Uwe auf und lädt uns für 3 Tage in sein Blockhaus am See ein. Uwe ist Bernsteinschleifer auf der Insel Föhr und wenn die Touristensaison dort endet, verbringt er den Winter seit über 20 Jahren reisend auf der Südhalbkugel. Bis zu dem Tag, als er an den Llanquihue-See kam. "Das Wasser war spiegelglatt und so sah man den Vulkan gleich zweimal - einmal in echt und einmal gespiegelt", erzählt er. Ihm gefiel es so gut, dass er sich ein Grundstück kaufte und darauf ein Blockhaus bauen ließ. Uwe ist kein Einzelfall - gleich nebenan wohnt Familie Püschel und außerdem zahlreiche andere Deutsche, beziehungsweise Nachfahren von Deutschen. Die chilenische Regierung warb um 1850 deutsche Handwerker und Bauern an und wollte so den kleinen Süden - durch den wir gerade radeln - weiter besiedeln. Die Spuren der deutschen Einwanderung sind bis heute ersichtlich: wir fahren an deutschen Gutshäusern mit großen Streuobstwiesen vorbei, sehen deutsche Gräber, essen Schwarzwälderkirschtorte und Sauerkraut. Noch heute haben 20.000 bis 35.000 Chilenen eine deutsche Muttersprache, es gibt 22 deutsche Schulen in Chile und in zahlreichen Städten einen ,Club Áleman', in welchen deutsches Brauchtum und die deutsche Sprache gepflegt werden. Zahlreiche Wissenschaftler sind zu dem Schluss gekommen, dass sich die deutschen Einwanderer nie wirklich in die chilenische Gesellschaft integriert hätten und sich bis heute abgrenzen würden. Bei dem Gedanken daran, dass in Deutschland der angeblich mangelnde Integrationswille von Einwanderern immer wieder für Empörung sorgt, muss ich schmunzeln.
Besuch aus Floh Wir flüchten vor dem Regenwetter, lassen unsere Räder in Puerto Montt stehen und treffen uns 800 km weiter nördlich mit Freunden aus Floh: Susi und Conrad mit ihrer 4-jährigen Tochter Clara. Unsere Reisegruppe ist jetzt also auf 8 Mann angewachsen und die einsamen Radlertage sind vorbei. Gut so! Wir freuen uns riesig über den Besuch aus der Heimat. In den letzten 2 Monaten haben sich unsere Köpfe mit neuen Eindrücken und Begegnungen gefüllt. Wie Balsam auf der Seele ist es dann, mit vertrauten Menschen unterwegs zu sein. Die Organisation in einer solchen Reisegruppe stellt uns allerdings auch vor einige Herausforderungen - zum Beispiel Essen für alle auf zwei kleinen Campingkochern zuzubereiten.
Unser erstes gemeinsames Ziel ist der einsame Nationalpark Altos Lircay, in dem wir Weihnachten feiern wollen. Bei herrlichstem Sonnenschein schlagen wir unsere Zelte in 1600 m Höhe auf und sind sprachlos in Anbetracht der grandiosen Ausblicke auf die schneebedeckten Gipfel der Anden.
Weihnachtsgeschichte life "Mama, was ist ein Verließ?", fragt mich Smilla unvermittelt und ich gebe ihr eine anschaulich Schilderung gruseliger, mittelalterlicher Gefängnisse. "Und warum sagen die Leute hier ,Verließ Navidad', wenn sie sich fröhliche Weihnachten wünschen?", ist ihre nächste Frage. Ich muss schallend lachen - natürlich klingt ,Verließ' und ,Feliz' zum verwechseln ähnlich. Dann kommt der 24.12. und das ungewöhnlichste Weihnachtsfest, das ich je gefeiert habe, nimmt seinen Lauf. Geplant war ein wildromantisches Weihnachten inmitten der Berge, doch gegen 12 Uhr beginnt es stark zu regnen und wir flüchten unter einen Holzunterstand. Der Regen wird immer heftiger und das Dach des Unterstandes ist undicht. Zudem wird es hier immer enger, da alle umliegenden Wanderer Zuflucht suchen. Aufgrund der Kälte und der Nässe beschließen wir schließlich durch den strömenden Regen zum nächsten Dorf abzusteigen. Dort sind jedoch wegen Weihnachten alle Unterkünfte und alle Läden geschlossen und so spurrten wir zur Bushaltestelle und erreichen um 18 Uhr den letzten Bus in die nächste Stadt, Talca. Susi hält tapfer die Weihnachtsstimmung aufrecht und so singen wir während der Fahrt Weihnachtslieder und halten nach dem Weihnachtsmann Ausschau. Ob der hier wohl genauso aussieht wie zu Hause und ob er wohl spanisch spricht? In Talca angekommen finden wir endlich ein Hostel und machen uns auf die Suche nach etwas zu Essen. Doch auch hier ist alles geschlossen. Schließlich finden wir noch ein Fast-Food-Restaurant. Pommes und Cola habe ich bisher noch nie am Heiligabend zu mir genommen, doch wir genießen es, wie das nobelste Mehr-Gänge-Menü. Die drei Mädels staunen nicht schlecht, als schließlich die chilenische Bedienung mit einem kleinen Sack ankommt und erklärt, dass der Weihnachtsmann gerade da war und dies für die Kinder bei ihr abgegeben hat. Für Euch klingt es sicherlich nach einem stressigen und weniger schönen Weihnachtsfest. Tatsächlich aber waren sich Erwachsene und Kinder einig, dass es sehr aufregend und sehr weihnachtlich war. Wir kamen uns vor, wie die Hauptakteure der Weihnachtsgeschichte. Schließlich geht es darin um eine Familie, die eine Reise macht und keine Unterkunft findet. Zum Glück endet sowohl die Weihnachtsgeschichte als auch unsere mit einem Happy End.
Nerudas Haus Silvester und Axels Geburtstag feiern wir in Santiago und staunen über das gigantische Feuerwerk über der Stadt. Am nächsten Tag teilt sich unsere Reisegruppe. Während die drei Männer für 2 Wochen Bergsteigen gehen, wollen Susi, Clara, Smilla, Selma und ich die Gegend um Santiago erkunden. Valparaiso ist unsere erste Station. Die Hafenstadt, die sich über 44 Hügel erstreckt, begeistert uns sofort: fast alle Häuser sind kunterbunt angemalt, zahlreiche Künstler leben hier. Wir schlendern durch die engen, unglaublich steilen Gassen und staunen über die einfallsreichen Hausfassaden. Valparaiso ist ein Bild Chile: bunt, lebendig und unglaublich vielgestaltig. Smilla bleibt vor einem Haus stehen, an dem zahlreiche Kuriositäten befestigt sind: von der haarlosen Puppe bis hin zum alten Fernseher - alles Fundstücke. "So soll später mal mein Haus aussehen!", sagt sie und wir müssen lachen bei der Vorstellung, was so ein Haus wohl in Floh für Reaktionen hervorrufen würde. Smilla hegt eine große Leidenschaft für Fundstücke. Ihre Taschen sind stets voll gestopft mit Steinen, Drähten und glitzernden Verpackungen. Sie ist ein Sammlertyp und nicht nur das besagte Haus in Valparaiso begeistert sie, sondern auch Pablo Nerudas Haus in Isla Negra, das wir als nächstes besuchen. Neruda ist ein bekannter chilenischer Dichter und Nobelpreisträger. Auch er war ein leidenschaftlicher Sammler und so bestaunen wir Sammlungen von Käfern, Gallionsfiguren und Flaschenschiffen. Nerudas Haus liegt direkt am Meer. Von allen Zimmern sieht man die Wellen, die auf die Felsen und den Strand aufschlagen. Als ich mich in dem Haus umsehe, fühle ich mich wie in einem von Nerudas Gedichten, die lebendig, sinnlich und voller Bilder sind.
Meer-Zeit für Kinder In dem Fischerdorf Horcon bleiben wir mehrere Tage. Wenn ich morgens die Terrassentür öffne, schlägt mir die Meeresluft entgegen und ich beobachte, wie die Fischerboote an den Strand anlegen, wo sie mit Pferden an Land gezogen werden. Ich atme tief ein und fühle mich selbst wie eine Welle im Meer oder wie die salzige Luft oder wie ein rundgewaschener Stein am Strand. Es sind wunderbare Tage hier, in denen Zeit keine Rolle spielt - für uns nicht und für die Mädels schon gar nicht. Stundenlang graben sie im Sand nach Schätzen und befördern Krebse, Seeigel, rundgewaschene Glasscherben und Muscheln zu Tage. Das Wasser ist recht warm und abends sind unsere Haare verklebt vom Salzwasser. Glücklich und vollgesaugt mit Leben treffen wir am 11. Januar die Männermannschaft in Santiago wieder. Was wohl in den Bergen so alles passiert ist? Dazu mehr im nächsten Bericht.
Eure Wibke.